Zwei neue Publikationen beleuchten in Frankreich, wie der Front National regiert, wenn er den Bürgermeister und die Mehrheit im Gemeinderat stellt. Eine Oppositionspolitikerin und Bewohnerinnen und Bewohner berichten von ihren Erfahrungen.
„Ein Disneyland des Front National“, so beschreibt Marine Tondelier ihre Heimatstadt, Hénin-Beaumont, wo sie Stadträtin ist, in ihrem neu erschienenen Buch „Nouvelles du Front“ („Nachrichten von der Front“). Seit den Kommunalwahlen im März 2014 regiert der Front National in insgesamt 11 Kommunen in Frankreich, darunter diese 27.000-Einwohner-Stadt im Norden des Landes. Die Methode ist dabei überall die gleiche: Möglichst schnell sichtbare Maßnahmen durchführen, die exemplarisch zeigen sollen, dass der Front National verantwortungsbewusst regieren und verwalten kann.
Das Ergebnis einer orchestrierten Strategie
Der Wahlerfolg des Front National in Hénin-Beaumont, wo die von FN-Kandidat Steeve Briois angeführte Liste die Mehrheit der Stimmen schon im ersten Wahlgang der Kommunalwahlen 2014 gewinnen konnte, war kein Zufall. Es war das Ergebnis einer orchestrierten Strategie die sich bis ins Jahr 2007 zurückverfolgen lässt. Damals hatte Marine Le Pen entschieden, sich im Wahlkreis von Hénin-Beaumont als Kandidatin für die Parlamentswahlen aufzustellen, obwohl sie keinerlei Verbindungen zu dieser Stadt und Region hat. Grund für ihre Entscheidung sei, so Le Pen, dass Hénin-Beaumont ein Symbol der Probleme des ganzen Landes darstelle: „Arbeitslosigkeit, Standortverlagerungen, Unsicherheit“.
Hénin-Beaumont liegt mitten in der früher wichtigsten Bergbauregion Frankreichs. Die Stilllegung der letzten Bergwerke Ende der 1990er Jahre war dort ein sozialer, wirtschaftlicher wie auch kultureller Schock, der immer noch nachwirkt. So liegt die Arbeitslosenrate in Hénin-Beaumont heute bei 20 Prozent, und jeder zweite ist Langzeitarbeitsloser. Diese Rahmenbedingungen hat der Front National gezielt für sich genutzt und seine Strategie entsprechend angepasst.
2009 wurde der damalige sozialistische Bürgermeister Gérard Dalongeville von Präsident Sarkozy seines Amts enthoben – ein angesichts der starken Stellung der Bürgermeister in Frankreich höchst seltener Vorgang. Dalongeville wird anschließend wegen der Veruntreuung öffentlicher Mittel, Urkundenfälschung und Bevorzugung verurteilt und inhaftiert. In den angesetzten Neuwahlen gewinnt der FN 48 Prozent der Stimmen, aber noch nicht die Mehrheit und verliert gegen eine gemeinsame Liste alle anderen Parteien. Die daraus entstehende regierende Mehrheit im Gemeinderat schafft es, die Finanzen zu sanieren und die enormen Schulden abzubauen. Bezahlen müssen das vor allem die Bürgerinnen und Bürger. Das stärkt den FN zusätzlich und bei den Kommunalwahlen im März 2014 kann der FN schließlich die absolute Mehrheit im Gemeinderat erreichen.
Ein Ziel und eine Methode
Seitdem regiert der Bürgermeister Steeve Briois mit einem Ziel und einer Methode. Das Ziel: Maßnahmen ergreifen, die konkret und sichtbar sind. Beispielsweise wurden die Dienstpläne der Stadtangestellten so geändert, dass man sie auf dem Schul- und Arbeitsweg arbeiten sehen kann. Die Methode: überall präsent sein, Hände schütteln, Abendessen und Tanz mit älteren Menschen, auf Facebook per privater Nachricht immer erreichbar sein. „Vor einer Stunde erhielte ich eine Nachricht von einer 70-jährigen Dame, die in eine neue Wohnung mit Dachstuhl umziehen möchte. Ich werde ihr helfen, das ist die Rolle eines Bürgermeisters: alles versuchen, damit es den Leuten besser geht“, erzählt Steeve Briois den beiden Autoren des Bildbandes L’illusion nationale (die Nationale Illusion). Zur Methode zählt aber auch, die politischen Gegner gezielt zu verunglimpfen und zu isolieren.
Oppositionsstadträtin Marine Tondelier beschreibt diese Logik in ihrem Buch: „Es handelt sich um Unterordnung. Jene, die auf dem Gedanken kommen könnten, sich gegen die kommunale Politik zu stellen, werden davon abgeschreckt. Diejenigen, die es trotzdem wagen, werden zur Abschreckung isoliert und gedemütigt. Es wird ihnen sogar vorgeworfen – die größte Beleidigung! – ‚Politik zu machen‘». Denn Steeve Briois macht keine Politik. In diesem FN-Disneyland thront er über den Dingen und gibt vor, das Gemeinwohl zu gewährleisten.“
„Falls es zur Revolution oder zum Krieg kommt, hoffe ich die ersten Kugeln sind für Sie“
Nach dem Wahlsieg wurden allmählich kommunale Angestellte, die in irgendeiner Form Kritik vor als auch nach der Wahl an der Stadtregierung geübt haben, so sehr unter Druck gesetzt, dass viele ihre Stelle gekündigt haben. Bei mehreren wurden Burn-Out und Depression diagnostiziert. Mitglieder der Opposition werden während den Gemeinderatssitzungen von ausgewähltem Publikum niedergebrüllt und in den sozialen Netzwerken diffamiert. Als Marine Tondelier im Sommer 2016 ein paar Fotos von einer Aktion in einer Kantine für Flüchtlinge auf Facebook veröffentlichte, wurden diese Bilder von Steeve Briois auf seiner eigene Seite geteilt und dort Kommentare gepostet wie: „Sie müsste großherziger sein und ihren Körper den Migranten feilbieten“, „Sau doof das Weib. So dumm wie Brot“, „Solidaritätsschwein“, „Falls es zur Revolution oder zum Krieg kommt, hoffe ich die ersten Kugeln sind für Sie“.
Jedoch ist Marine Tondelier keine „hysterische Gegnerin“, wie sie von den Mitgliedern der Mehrheit im Stadtrat beschimpft wird. Sie anerkennt, dass der Bürgermeister einige Erfolge verbuchen kann und beschreibt sich selbst als „sowohl von Aussagen einer unterdrückten Minderheit als auch von der großen Zufriedenheit der Mehrheit der Einwohner, die von diesen Druck nicht beunruhigt sind, verstört“.
Der Mix des Rechtspopulismus auf lokaler Ebene
Diese Zufriedenheit von Vielen haben die Historikerin Valérie Igounet, und der Fotograf Vincent Jarousseau zwei Jahre lang beobachtet, Menschen interviewt und fotografiert, sowohl in Hénin Beaumont als auch in den Städten Hayange und Beaucaire und in einem Bildband dokumentiert. Die Aussagen zufriedener Bürgerinnen und Bürger in den drei Städten lauten: „Der Bürgermeister schüttelt jedem die Hand“, „die Stadt ist jetzt sauberer“, „es gibt mehr kommunale Polizisten im Zentrum“, „der Bürgermeister hat eine Wohnung für mich gefunden“. Drei Wörter charakterisieren die Kommunalpolitik des FN laut Valérie Igounet und Vincent Jarousseau: „Omnipräsenz, Bürgernähe, Zuhören“. Der FN nutzt alle Möglichkeiten und kommunale Kompetenzen, um sichtbare und sehr konkrete Veränderungen umzusetzen und für alles, was nicht funktioniert, ist der Staat oder noch häufiger die Europäische Union verantwortlich: Der Mix des Rechtspopulismus auf lokaler Ebene.
„Diese lokale Illusion könnte eines Tages national werden“
Für die beiden Autoren der Nationalen Illusion, Valérie Igounet und Vincent, symbolisiert der FN für einen großen Teil seiner Wähler und Wählerinnen eine Hoffnung, ein anderes Leben, vermeintlich sicherer und ohne Migrantinnen und Migranten, die als Bedrohung wahrgenommen werden: „Er verkauft seinen Wählern einen Traum: sie dürften wieder stolz auf sich sein“. Nach zwei Jahren Untersuchungen vor Ort kommen beide Autoren zum Schluss, dass die Identifikation mit den Ideen des Front National und die Zustimmung gegenüber diese Ideen viel breiter und viel tiefer verwurzelt sind als was in den Umfragen deutlich wird. Drei Beispiele lassen sich sicherlich nicht verallgemeinern. Aber knapp zwei Wochen vor der Wahl ist noch alles offen und möglich in Frankreich. Valérie Igounet und Vincent Jarousseau konstatieren lakonisch: „Diese lokale Illusion könnte eines Tages national werden“.